(Out of) Control - Gärprozess in Fass und Leben
- Michel ́s Bierreise
- 11. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Immer wieder schon verband ich Schritte des Brauprozesses mit unserem Leben:
Malz schroten, Maischen, die Bedeutung des Hopfens und das Würzekochen.
Ja, die Dinge haben auch was mit unserem Alltag zu tun. (Durch Klick auf die Begriffe gelangst Du zu den entsprechenden Beiträgen).
Heute erkläre ich Dir die Faszination und Herausforderung des Gärprozesses und was das mit Deinem und meinem Leben zu tun hat.
Die Flüssigkeit nach Maischen und Kochen nennt man "Würze". Sie schmeckt intensiv süß und bitter. Probiert man sie, denkt man noch nicht an Bier.
Die Bittere kommt durch den Hopfen. Die Süße ist durchs Maischen gelöste Zucker.
Genau den nutzen wir nun für die Gärung.
"Wir" ist nicht ganz richtig.
Das macht die Hefe.
Vereinfacht ausgedrückt: Die Hefe futtert Zucker für ihr Leben gern. Und macht daraus Alkohol und Kohlensäure.
Dieses Festmahl nennen wir "Gärung".
Und das ist ein wirklich faszinierender Prozess.
Im Vorfeld kann ich recht viel steuern: Malz und Hopfen bestimmen Farbe, Aromen und Geschmack. Über die unterschiedlichen Maischetemperaturen dirigiere ich ebenfalls verschiedene Prozesse und geschmackliche Nuancen. Auch die Hefeauswahl ist entscheidend für den Geschmack eines guten Bieres.
Kurzum: Im gesamten Brauprozess habe ich viele Einflussmöglichkeiten.
Und dann kommt die Gärung.
Auch hier bin ich gefragt: Je nach Hefe will diese eine bestimmte Temperatur. Dafür sorge ich.
Aber das wars dann eigentlich auch schon. Viel mehr kann ich nicht machen. Den Rest muss die Hefe allein machen.
Ich musste es - Gott sei Dank - noch nie schlimm erleben. Aber es gibt z.B. "Gärhänger". Das heißt: Trotz guter Bedingungen stockt plötzlich die Gärung. Anhand der Messwerte kann man dies feststellen. Bekommt man sie nicht wieder in Gang, ist der Sud dahin - im besten Fall erhält man ein Bier in minderer Qualität, d.h. mit einer hohen Restsüße. Oder extrem hefig, sollte man sich für eine weitere Hefezugabe entschieden haben.
Alles irgendwie nüscht.
Der Gärprozess ist also der Schritt, auf den ich am wenigsten Einfluss habe und am wenigsten tun kann.
Hier gilt: beobachten, warten, hoffen - und immer wieder auch beten 😅
Gärung geschieht in der Regel in einer geschlossenen Atmosphäre:
Das Fass ist luftdicht verschlossen.
Über den Gärspund kann Überdruck entweichen.
Eine Wasserbarriere verhindert das Eindringen von Bakterien, Obstfliegen im Sommer usw.
Der Gärprozess stabilisiert das Bier und macht es haltbar. Bis dahin ist die Würze und das Jungbier ein sehr anfälliges und verletzliches Produkt. Deswegen ist es stets das Ziel, die Würze nach dem Kochen schnell runterzukühlen und zügig die Hefe zuzugeben.
Mit Beginn der Gärung startet ein faszinierender Schutzprozess: Auf dem Bier bildet sich eine dichte Gärdecke und darüber eine CO2-Schutzhülle. Das Jungbier ist dadurch geschützt. Am Ende der Gärung bildet sich die Gärdecke wieder zurück.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Sud. Aus Neugier entfernte ich den Gärspund, um zu sehen, ob alles "funktioniert".
Ein No-Go 🙈.
Es besteht die reale Gefahr, die Schutzatmosphäre zu zerstören, was allerlei Eumels (Keime, Bakterien...) ins Bier bringen kann. Das kann dazu führen, dass Hopfen und Malz verloren ist. Das will man natürlich nicht.
Ist die Gärung abgeschlossen (je nach Gärart in der Regel 7-14 Tage), kann das Bier abgefüllt werden.
Das Ganze hört sich vielleicht recht unspektakulär an. Doch der gesamte Prozess ist komplex. Vor allem: Hier werde ich am ehesten unsicher und unruhig. Ich habe keinen Einfluss auf das Wesentliche, habe ihn - im wahrsten Sinn des Wortes - nicht in der Hand.
Genau das ist eine Schule fürs Leben.
Wir können vieles im Leben gestalten, entscheiden, in die Hand nehmen, Schritte in die eine oder andere Richtung gehen. Wie ich bei der Gärung die Rahmenbedingungen beeinflusse, mache ich dasselbe mit meiner Lebensführung.
Aber die wesentlichen Dinge habe ich dann doch nicht in der Hand.
Die gesündeste Lebensweise mit Sport und bewusster Ernährung ist keine Garantie für meine Gesundheit.
Die klügsten Entscheidungen in der beruflichen Laufbahn schützen nicht vor Arbeitsplatzverlust oder Insolvenz.
Die größte Liebe und Erziehung nach bestem Wissen und Gewissen gewähren keine gelingende Eltern-Kind-Beziehung oder dass die Kinder "gut durchs Leben" kommen.
Es gibt zu viele Faktoren, die unserem Handeln entzogen sind. Bei genauem Hinsehen, sind das sogar die Wesentlichen.
Das kann uns ganz schön unsicher und unruhig machen. Regelrecht Angst verursachen, was alles geschehen könnte. Der Konjunktiv kann eine gewaltige Macht entwickeln.
Mich fasziniert die Schutzatmosphäre, die bei der Gärung entsteht.
Das verletzliche und wehrlose Jungbier wird dadurch geschützt.
Es kann immer noch zu Keimbelastung kommen. Oder eben zum "Gärhänger". Doch erstmal ist das Konjunktiv, dem ich gar nicht so viel Macht geben will.
Seit 2019 habe ich es in 35 Suden nicht erlebt. Kurze Schreckmomente, ja.
Aber nie war Hopfen und Malz verloren. Während ich diesen Beitrag schreibe, bin ich gerade am 36. Sud.
Und auch hier hoffe ich, dass wieder alles klappt. Dass die Hefe ihre Arbeit verrichtet, eine Schutzhülle aufbaut und ich am Ende ein leckeres Bierchen genießen darf.
Ich glaube, im Leben gibt es auch solche Schutzatmosphären.
Die Familie und enge Freundschaften zum Beispiel.
Sie können einen vor unguten Entscheidungen bewahren und helfen, wenn es mal "hängt", der Konjunktiv uns nach unten zieht oder echt ungut kommt.
Dankbarkeit ist auch eine Schutzatmosphäre. 🍻 Sie schützt unsere Augen davor, nur auf das zu sehen, was nicht da oder nicht gelungen ist. 🍻 Sie schützt unser Herz davor, traurig und bitter zu werden. 🍻 Sie schützt und entfaltet Lebensenergie und Mut zum nächsten Schritt.
Für mich ist der Gott der Bibel auch eine solche "Schutzatmosphäre".
Es wäre zu einfach, nach dem Motto zu gehen: Dann kann mir nichts mehr passieren. Wir sind uns bewusst, dass Krankheiten, unvorhergesehene Situationen und mehr zur Realität des Lebens in dieser Welt gehören - egal, ob Du es mit oder ohne Gott lebst.
Doch auch in unverblümter Lebensrealität konnte der Psalmschreiber formulieren:
Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe. Psalm 91,1-2
Ich bin tatsächlich überzeugt, dass Gott oft seinen "Schutzschirm" über uns hält.
In manchen Schreckmomenten erfahren wir es. Oft merken wir es vermutlich gar nicht, weil eben "nichts passierte".
Aber dieses "zuversichtlich auf Gott hoffen", das hier angesprochen wird, kann allen Konjunktiven Macht nehmen. Das Wesentliche haben wir nicht in der Hand. Aber wenn ich mich in der Hand Gottes weiß, kann ich damit umgehen lernen. Weiß, das über meinem verletzlichen Leben noch eine liebende Realität ist.
Das ist keine Zuversicht, die ich besitze oder mir angeeignet habe. Dann hätte ich sie ja doch in der Hand. Ich erlebe es oft als ein Durchringen: Blicke nicht auf Dein Unvermögen, sondern auf Gottes Größe.
Und immer wieder als geschenkte Erfahrung, es in solchen Momenten erleben zu dürfen.
Es ist ein Gärprozess, in dem ich hoffe, dass meine Zuversicht und meine Erfahrungen in den guten Dingen wie den "Hängern" des Lebens weiter voranschreiten dürfen.
Cheers - Euer Michel 🍻
🍻🍻🍻🍻🍻🍻🍻🍻
An alle in Mittelhessen: Am 9. Mai bin ich in Gießen - Sehen wir uns? 😊
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